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Zur Höhe des Schadensersatzes bei grundloser Verfahrensaufhebung

20.04.2021

von RA Michael Werner

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 08.12.2020 – XIII ZR 19/19 – u. a. folgendes entschieden:

• Verletzt der öffentliche Auftraggeber eine Rücksichtnahmepflicht im vorvertraglichen Schuldverhältnis, indem er ein Vergabeverfahren rechtswidrig aufhebt (hier: ohne einen Aufhebungsgrund nach § 17 Abs. 1 VOB/A), steht dem Bieter, auf dessen Angebot bei Vergabe des Auftrags der Zuschlag zu erteilen gewesen wäre, ein Schadensersatzanspruch zu. Der Anspruch ist auf den Ersatz des Schadens gerichtet, der dem Bieter durch die mangelnde Beachtung der für das Verfahren und seine mögliche Aufhebung maßgeblichen Vorschriften entstanden ist.

• Dieser zu ersetzende Schaden besteht grundsätzlich in den Aufwendungen, die der Bieter zur Wahrnehmung seiner Chance auf einen Zuschlag vorgenommen hat und hierzu für erforderlich halten durfte. Personalkosten für die Angebotserstellung sind dabei auch ohne konkreten Nachweis des Bieters, dass er ohne diesen Aufwand durch deren Tätigkeit anderweitig Einnahmen erwirtschaftet hätte, ersatzfähig.

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte die schlüsselfertige Errichtung eines Mehrfamilienhauses zur Unterbringung von Flüchtlingen national nach VOB/A ausgeschrieben. Bieter A gab darauf das günstigste Angebot ab. Nach einer Bindefristverlängerung hob der AG die Ausschreibung wegen Wegfalls des Beschaffungsbedarfs auf. Drei Monate später schrieb der AG ein Bauprojekt in derselben Lage und mit dem gleichen Leistungsverzeichnis erneut aus. Da A dieses Mal nicht das günstigste Angebot abgegeben hatte, erhielt ein Dritter den Zuschlag. A forderte darauf das positive Interesse, d. h. Zahlung seines entgangenen Gewinns, hilfsweise Ersatz der Angebotsbearbeitungskosten. Das OLG verurteilte den AG zur Zahlung von entgangenem Gewinn sowie Ersatz der Kosten der Angebotserstellung, der Angebotsunterlagen sowie der Anwaltskosten an A. Der AG ging dagegen in die Revision.

Der BGH hebt das Urteil des vorinstanzlichen OLG auf und gesteht A nur den Ersatz des negativen Interesses zu, d.h. die Kosten der Angebotserstellung, da die Aufhebung und Neuausschreibung zwar rechtswidrig, aber nicht deshalb erfolgt sei, um den Auftrag an einen anderen als den Bestbieter zu vergeben.

Nach § 17 Abs. 1 VOB/A könne eine Ausschreibung aufgehoben werden, wenn kein Angebot eingegangen sei, das den Ausschreibungsbedingungen entspreche, die Vergabeunterlagen grundlegend geändert werden müssten oder andere schwerwiegende Gründe bestünden. Der Aufhebungsgrund, der den Ausschreibenden nach § 17 Abs. 1 VOB/A zur Aufhebung der Ausschreibung berechtige, müsse nach Beginn der Ausschreibung eingetreten oder dürfe ihm jedenfalls vorher nicht bekannt gewesen sein. Der Bieter dürfe erwarten, dass der AG nicht leichtfertig ausschreibe, wie sich schon aus § 2 Abs. 6 VOB/A ergebe.

An das Vorliegen eines Aufhebungsgrundes nach § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A seien als Ausnahmetatbestand strenge Anforderungen zu stellen. Berücksichtigungsfähig seien nur solche Gründe, die die Durchführung des Verfahrens und die Vergabe des Auftrags selbst ausschlössen. Im Einzelnen bedürfe es für die Feststellung des schwerwiegenden Grundes einer Interessenabwägung, für die die Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls maßgeblich seien. Das Gewicht des schwerwiegenden Grundes müsse so groß sein, dass eine Bindung des Auftraggebers an die Bedingungen der Ausschreibung mit Recht und Gesetz unvereinbar wäre und von den Bietern erwartet werden könne, dass sie auf die rechtlichen und tatsächlichen Bindungen des Ausschreibenden Rücksicht nähmen.

Der Wegfall des Beschaffungsbedarfs komme als schwerwiegender Grund im Sinne des § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A in Betracht. Allerdings sei aus dem Protokoll der nichtöffentlichen Gemeinderatssitzung vom 9. Mai 2016, in dem es heiße, der Bau solle „vorangetrieben und umgesetzt werden“, zu schließen, dass der vom AG angegebene Grund nicht vorgelegen habe. Der AG habe die Beschaffung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts entgegen mehrerer Mitteilungen an A nie vollständig aufgegeben.

Die Verletzung einer Rücksichtnahmepflicht gemäß § 241 Abs. 2 BGB im vorvertraglichen Schuldverhältnis durch den Ausschreibenden begründe einen Schadensersatzanspruch des Bieters, der auf den Ersatz des Schadens gerichtet sei, der dem Bieter durch die mangelnde Beachtung der für das Verfahren und seine mögliche Aufhebung maßgeblichen Vorschriften entstanden sei. Zu Recht habe das OLG dem A auf dieser Grundlage einen Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen zuerkannt, die er zur Wahrnehmung seiner Chance auf einen Zuschlag vorgenommen habe und für hierzu erforderlich halten durfte. Es stünden dem A gemäß § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2, § 249 Abs. 1 BGB die Kosten für die Angebotserstellung in der vom OLG zugesprochenen Höhe von 1.206,30 Euro nebst anteiligen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 192,50 Euro und Zinsen zu.

Verletze die Vergabestelle ihre Pflicht zur Rücksichtnahme durch die Aufhebung des Vergabeverfahrens, ohne dass ein Aufhebungsgrund nach § 17 Abs. 1 VOB/A vorliege, könne dies regelmäßig einen Anspruch eines Bieters auf Erstattung des negativen Interesses begründen. Dazu gehörten auch die Personalkosten für die Angebotserstellung, die auch ohne konkreten Nachweis des Bieters, dass er seine Mitarbeiter anderweitig hätte einsetzen können und dadurch Einnahmen erwirtschaftet hätte, die ihm entgangen seien, ersatzfähig seien, da die eingesetzte Arbeitskraft typischerweise einen Marktwert habe und bei wertender Betrachtung vom Schadensersatz nicht auszugrenzen sei. Darüber hinaus müsse der AG die von ihm verlangten Kosten der Vergabeunterlagen rückerstatten sowie auch die Anwaltskosten des A.

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Anmerkung:
Zweifelhaft und nicht in allen Punkten nachvollziehbar ist, weshalb hier der BGH dem Bieter lediglich das negative Interesse, d. h. den Ersatz der Kosten der Angebotserstellung, und nicht das positive Interesse zuerkannt hat. Denn der Anspruch auf letztgenanntes Interesse stützt sich – nach bisheriger, ständiger Rechtsprechung – auf die objektive Verletzung des berechtigten Vertrauens des Bieters in ein rechtmäßiges Handeln des AG. Bei einem rechtmäßigen Handeln des AG hätte hier der A aber den Auftrag erhalten müssen.

Begrüßenswert ist andererseits die klare Feststellung des BGH, dass Kosten für die Tätigkeit des eigenen Personals bei der Angebotserarbeitung anhand des Ist-Aufwands als negatives Interesse gefordert werden kann. Damit dürfte sich der in derartigen Schadensersatzprozessen sehr oft vorgebrachte Einwand, die Kosten des eigenen Personals fielen immer an und seien deshalb als sog. Sowieso-Kosten nicht ersatzfähig, erledigt haben.

Wenn also ein Bieter die mit der Angebotserarbeitung aufgewandten Stunden seiner Mitarbeiter nachweisen kann, kann er zukünftig bei allen rechtswidrigen, d.h. von § 17 VOB/A nicht gedeckten Verfahrensaufhebungen diese Personalkosten als Schadensersatz erstattet verlangen.

  Quelle:


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