von RA Michael Werner
Die Vergabekammer (VK) des Bundes hat mit Beschluss vom 10.03.2020 – VK 2-9/20 – u.a. folgendes entschieden:
• Die unterlassene Weiterleitung von Bieterfragen und -antworten stellt einen schwer wiegenden Verfahrensfehler dar und berechtigt den Auftraggeber zur Aufhebung der Ausschreibung.
• Will der Auftraggeber mit der Aufhebung eigene Verfahrensfehler korrigieren und die Zuschlagskriterien klarstellen, um eine rechtmäßige Angebotswertung zu gewährleisten, ist eine Aufhebung nur dann zulässig, wenn ein Aufhebungsgrund gem. § 17 EU Abs. 1 VOB/A vorliegt.
Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte Bauleistungen europaweit im offenen Verfahren ausgeschrieben. Gegenstand des Auftrags war die Zugabe von Gestein in den Rhein, um die Sohle des Flusses zu stabilisieren. Zuschlagskriterium sollte zu 60 Prozent der Preis, zu 30 Prozent der „Technische Wert“ und zu 10 Prozent die „Umweltrelevanz“ sein.
Zum Kriterium „Technischer Wert“ gehörte das Unterkriterium „Materialverfügbarkeit“, das u. a. auch die Vorhaltung eines Sicherheitsdepots in Baustellennähe enthielt. Nach Versand der Vergabeunterlagen stellten mehrere Bieter verschiedene Fragen, insbesondere zum Unterkriterium Materialverfügbarkeit und zum geforderten Sicherheitsdepot, wobei der AG nicht alle Fragen und Antworten an alle Bieter weiterleitete. Nach Angebotsabgabe leitete Bieter B ein Nachprüfungsverfahren ein, das wegen Abhilfeerklärung des AG für erledigt erklärt wurde. Aufgrund der von der VK in diesem Verfahren dargelegten vergaberechtlichen Bedenken setzte der AG das Verfahren in den Stand vor Auftragsbekanntmachung zurück. Darauf rügte Bieter A die Aufhebung als vergaberechtswidrig, weil es sich um eine Scheinaufhebung aufgrund fortbestehender Beschaffungsabsicht handele und stellte seinerseits Nachprüfungsantrag zur VK.
Die VK gibt hier dem AG Recht. Die Zurückversetzung des Vergabeverfahrens in das Verfahrensstadium vor dessen Bekanntmachung entspreche materiell betrachtet einer vollständigen Aufhebung bei fortbestehender Beschaffungsabsicht. Der AG beabsichtige mit der Aufhebung eigene Verfahrensfehler zu korrigieren und eine Klarstellung der Zuschlagskriterien – insbesondere der Unterkriterien Materialverfügbarkeit und Transportweg – ,die er für nicht hinreichend bestimmt halte, um auf diese Weise eine rechtmäßige Angebotswertung zu gewährleisten. Die inhaltlichen Vorgaben der Leistungserbringung sollten dagegen unverändert bleiben. Bei dieser Sachlage – einer Neuausschreibung bei unveränderter Beschaffungsabsicht – sei eine Aufhebung des Vergabeverfahrens nur dann zulässig, wenn ein Aufhebungsgrund gemäß § 17 EU Abs. 1 VOB/A vorliege.
Die unterlassene Weiterleitung der Bieterfragen und -antworten begründeten einen schwerwiegenden Verfahrensfehler unter Verstoß gegen § 12a EU Abs. 3 VOB/A. Nach dieser Vorschrift sei der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, Auskünfte über die Vergabeunterlagen vor Ablauf der Angebotsfrist allen Unternehmen in gleicher Weise zu erteilen. Insbesondere sei aus dieser Vorgabe abzuleiten, dass Bieterfragen sowie die Antworten hierauf grundsätzlich allen Wettbewerbsteilnehmern zur Verfügung gestellt werden müssten. Diese Regelung diene der Gewährleistung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des Transparenzprinzips und solle eine einheitliche Informationsbasis für alle Bieter zum Erhalt von Angeboten, die im Wettbewerb vergleichbar seien, gewährleisten. Hier hätte der AG die Bieterfragen und die Antworten darauf in den öffentlichen Bereich des Bieterportals einstellen oder eine andere Art der Offenlegung wählen müssen. Schon diese Nicht-Weitergabe von Information an alle Bieter stelle für sich genommen einen sachlichen Grund für die Zurückversetzung des Vergabeverfahrens dar. Die AG handele vergaberechtskonform, indem er diesen Fehler über eine Zurückversetzung korrigieren wolle.
Zur uneinheitlichen Bieterinformation komme hinzu, dass die Verfahrensunterlagen jedenfalls hinsichtlich der Festlegungen zum Zuschlagsunterkriterium Materialverfügbarkeit und insbesondere der Vorgabe „ein Sicherheitsdepot vorzuhalten“, widersprüchlich gewesen seien. Welcher Erklärungswert dem Inhalt von Vergabeunterlagen zukomme, sei nach den für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln. Maßgeblich für das Verständnis sei dabei der objektive Empfängerhorizont des von der Ausschreibung adressierten Bieterkreises entsprechend fachkundiger Unternehmen. Hier hätten aber, auch unter Zugrundelegung der Antworten auf die Bieterfragen die Vorgaben des AG verschiedene Auslegungsmöglichkeiten zugelassen und wären daher gerade nicht einer einheitlichen Auslegung und in diesem Sinne objektiv entgegen der Verpflichtung nach § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB mehrdeutig gewesen. Damit seien die Vorgaben zum Zuschlagskriterium „Materialverfügbarkeit“ nicht hinreichend bestimmt gewesen, weshalb die Aufhebung der Ausschreibung gemäß § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 und 3 VOB/A gerechtfertigt sei. Der AG habe daher die Ausschreibung gemäß § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 und 3 VOB/A aufheben dürfen, weil diese der Korrektur von wertungsrelevanten Verfahrensfehlern diene und kein milderes Mittel ersichtlich sei, welches der AG vorrangig hätte ergreifen müssen.
Vor diesem Hintergrund sei es sachwidrig und prozessökonomisch unzumutbar, dem AG aufzuerlegen, ungeachtet der von ihm selbst erkannten Vergaberechtsverstöße an der Ausschreibung festzuhalten. Im Sinne einer Korrektur eigenen Fehler sei es vielmehr vergaberechtlich geboten, dass der AG diese eigeninitiativ aufgreife und beseitige.
Anmerkung: Als Quintessenz aus dieser Entscheidung können 3 Punkte festgehalten werden: • Die Vergabeunterlagen im Allgemeinen wie die Zuschlagskriterien im Speziellen (wie hier z.B. Vorhaltung eines Sicherheitsdepots) dürfen auf keinen Fall widersprüchlich sein und müssen von allen Bietern in gleicher Weise verstanden werden. Zweifel daran gehen zulasten des AG.
• Alle Bieterfragen sowie alle Antworten des AG müssen sämtlichen Bietern rechtzeitig vor Angebotsabgabe zur Kenntnis gebracht werden. Bestehen hier auch nur geringste Zweifel des AG, empfiehlt es sich, notfalls die Angebotsfrist zu verlängern.
• Stellt der AG in seinen Vergabeunterlagen einen Fehler fest, darf er diesen korrigieren. Ist er für diese Korrektur gezwungen, das Vergabeverfahren aufheben zu müssen, kann er dies zulässigerweise nur dann tun, wenn ein Aufhebungsgrund gemäß § 17 Abs. 1 EU VOB/A vorliegt. Liegt ein solcher Grund nicht vor und der AG hebt trotzdem auf, haben die Bieter Anspruch auf Schadensersatz. |