von RA Michael Werner
Der Vergabesenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) hat mit Beschluss vom 09.04.2021 – Verg 3/21 – u. a. folgendes entschieden:
• Eine „schwere Verfehlung“ muss die Integrität des Bieters in Frage stellen. Der Auftraggeber kann daher nicht pauschal von einer schweren Verfehlung auf die Unzuverlässigkeit des Bieters schließen.
• Die Abwerbung von Mitarbeitern eines Konkurrenten ist regelmäßig keine schwere Verfehlung.
• Einem Bieter müssen die zur Leistungserbringung erforderlichen Mittel nicht bereits im Zeitpunkt der Angebotsabgabe oder bei Zuschlagserteilung zur Verfügung stehen. Sofern sich der öffentliche Auftraggeber keinen anderen Zeitpunkt vorbehält, muss der Bieter erst zum Zeitpunkt der Leistungserbringung über die eignungsrelevanten Mittel verfügen und das benötigte Personal einstellen.
• Auf Verlangen des Auftraggebers muss ein Bieter darlegen, aus welchen Gründen ihm das zur Auftragserfüllung erforderliche Personal bei Vertragsbeginn tatsächlich zur Verfügung stehen wird.
Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte Objektschutzdienste im offenen Verfahren europaweit gemäß VgV ausgeschrieben. Nach Angebotswertung teilte er dem Bieter A mit, dass dessen Angebot den 2. Rang erreicht und der Zuschlag auf das Angebot des Bieters B erteilt werden sollte. B rügte darauf, B sei gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB vom Verfahren auszuschließen, da er nachweislich schwere Verfehlungen aufgrund wettbewerbswidrigen Verhaltens begangen habe. Zwei Mitarbeiter von B hätten versucht, während der Arbeitszeit Mitarbeiter des A an deren Arbeitsstelle abzuwerben. B wolle auch weitere Mitarbeiter des A ab Beginn der Auftragsdurchführung übernehmen; insoweit sollten auch mit weiteren Mitarbeitern Gespräche geführt werden. Daraus sei zu folgern, dass B nicht über ausreichend Personal verfüge, um den Auftrag auszuführen. A stellte einen Nachprüfungsantrag, der von der VK als unbegründet zurückgewiesen wurde. Dagegen beantragte A sofortige Beschwerde zum BayObLG.
Das BayObLG weist die sofortige Beschwerde als unbegründet zurück. A berufe sich zu Unrecht darauf, dass B gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB vom Vergabeverfahren auszuschließen sei. Die Frage, ob das persönliche Ansprechen der Mitarbeiter des A einen Wettbewerbsverstoß im Sinne des UWG darstelle, müsse nicht abschließend geklärt werden, da jedenfalls die Entscheidung des AG, den Bieter B nicht auszuschließen, fehlerfrei erfolgt sei. „Schwere Verfehlungen“ seien erhebliche Rechtsverstöße, die geeignet seien, die Zuverlässigkeit eines Bewerbers grundlegend in Frage zu stellen. Sie müssten schuldhaft begangen worden sein und erhebliche Auswirkungen haben. Der Begriff „Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ umfasse jedes fehlerhafte Verhalten, das Einfluss auf die berufliche Vertrauenswürdigkeit des betreffenden Unternehmens habe, und nicht nur Verstöße gegen berufsethische Regelungen im engen Sinne des Berufsstands, dem dieser Wirtschaftsteilnehmer angehöre. Eine schwere Verfehlung müsse bei wertender Betrachtung vom Gewicht her den zwingenden Ausschlussgründen des § 123 GWB zumindest nahekommen. Die Abwerbung von Mitarbeitern eines Konkurrenten sei in der Regel keine schwere Verfehlung in diesem Sinne. Dafür, dass die Integrität infrage gestellt sei, müssten nachvollziehbare sachliche Gründe vorliegen, dass auch der zu vergebende Auftrag nicht integer abgewickelt werde. Ob eine festgestellte schwere Verfehlung die Integrität des Unternehmens infrage stelle, sei eine Bewertung mit prognostischem Charakter, so dass dem Auftraggeber insoweit ein Beurteilungsspielraum zustehe. Hierfür sei aber vorliegend nichts ersichtlich. Es begegne daher keinen rechtlichen Bedenken, dass der AG die Frage der Unzulässigkeit der von A vorgetragenen Abwerbemaßnahmen offengelassen habe und davon ausgegangen sei, dass jedenfalls die für einen Ausschluss des B nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB ebenfalls erforderliche Negativprognose nicht begründet werden könne.
Ebenfalls ohne Erfolg habe A hier beanstandet, eine Überprüfung des Zuschlagskriteriums „Qualifikation der eingesetzten Mitarbeiter“ sei nicht erfolgt und das bloße Vertrauen auf eine Zusage stelle keine Überprüfung im Sinne von § 127 Abs. 4 GWB dar. Nach § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB müssten die Zuschlagskriterien so festgelegt sein, dass eine wirksame Überprüfung möglich sei, ob und inwieweit die Angebote die Kriterien erfüllten. Der Auftraggeber könne entsprechende Belege für die Erfüllung von Zuschlagskriterien verlangen, er sei allerdings nicht verpflichtet, die Angaben der Bieter zu verifizieren. Er dürfe das wertungsrelevante Leistungsversprechen eines Bieters ungeprüft akzeptieren, soweit nicht konkrete Tatsachen vorlägen, die den Rückschluss auf eine zukünftige Nichteinhaltung der mit Angebotsabgabe eingegangener Verpflichtungen zuließen. Auch § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB spreche daher nur von der „Möglichkeit“ einer Überprüfung.
Konkrete Tatsachen, die die Prognose einer Nichteinhaltung der mit Angebotsabgabe eingegangenen Verpflichtungen zuließen, zeige A aber nicht auf. Allein die Annahme, das Ansprechen von Mitarbeitern des A zur Übernahme beruhe auf einem Personalmangel bei B, genüge hierfür nicht. Auch die Behauptung des A, Bieter B habe über die Mitarbeiter mit der entsprechenden Qualifikation getäuscht, sei nicht durch Vortrag von Tatsachen untermauert. Es handele sich insoweit um nicht belegte Behauptungen. Im Übrigen müssten dem Bieter die zur Leistungserbringung erforderlichen Mittel nicht bereits im Zeitpunkt der Angebotsabgabe oder bei Zuschlagserteilung zur Verfügung stehen. Der AG müsse, sofern sich der öffentliche Auftraggeber nicht in der Bekanntmachung einen anderen Zeitpunkt vorbehalte, in der Regel erst zum Zeitpunkt der Leistungserbringung über die eignungsrelevanten Mittel verfügen und das benötigte Personal einstellen. Dies gelte namentlich für Personal, das erst auf der Grundlage des erteilten Auftrags für den Bieter erforderlich werde und arbeitsvertraglich gebunden werden müsse, denn es sei keinem Bieter zumutbar, weitreichende Personaldispositionen auf die bloße Vermutung eines Zuschlags zu treffen.
Anmerkung: Wie das BayObLG richtig hinweist, ist der hier einschlägige § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB ein sog. „fakultativer Ausschlussgrund“, der – im Gegensatz zu § 123 GWB – im Ermessen des AG steht und eben nicht zwingend einen Ausschluss erfordert. Insoweit berechtigt eben gerade nicht jede Rechtsverletzung den AG dazu, den Bieter vom Verfahren auszuschließen. Vielmehr ist der AG verpflichtet, im Einzelfall eine Prognose darüber anzustellen, ob eine Rechtsverletzung in der Vergangenheit berechtigte Zweifel an der Integrität des Bieters bezüglich der Ausführung des konkret ausgeschriebenen Auftrags begründet. Kann der AG das bejahen, ist es dann letztlich entscheidend, ob diese schwere Verfehlung auch nachgewiesen werden kann. |