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In Gemeinschaft wohnen

04.06.2020

Mit einer langen Reise beginnt die Arbeit an einer Masterthesis und mündet in einem Architekturmodell für integratives Wohnen

Eine Reise durch Europa – das klingt nach Urlaub und Entspannung. Aber für Katharina Hollberg und Anton Leibham vom Fachbereich Architektur der FH Münster, der Münster School of Architecture (MSA), war es Teil ihrer Abschlussarbeit. Das Ziel: genügend Impulse dafür zu bekommen, wie Wohnen in Gemeinschaft auch in größerem, quartiersübergreifendem Maßstab gelingen kann.

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Katharina Hollberg und Anton Leibham arbeiten in Berliner Architekturbüros. Für ihre Masterthesis „Neue Formen der Öffentlichkeit“ erhielten sie den Bernard-Rincklake-Preis.

Foto: privat

„Diese Reise war sehr hilfreich, neue Eindrücke aus dem mitteleuropäischen Kulturkreis zu sammeln und damit gefestigte Gedankenstrukturen zu verlassen“, erzählt Leibham. Fünf Wochen, zehn Städte, sieben Länder, weit über 5.000 Kilometer Zugstrecke und 500 Kilometer Fußweg führten die beiden zu über 250 altbewährten, gründerzeitlichen und zeitgenössischen Wohnungsbauprojekten. Zu Projekten, die auch ihrer Vorstellung von Wohnen entsprechen: privat und individuell, aber auch offen und integrativ.

Hollberg und Leibham haben mit den Menschen vor Ort gesprochen und geschaut, wie sie sich ihr Quartier aneignen. „Das Verständnis von Wohnraum ist heute ein anderes als früher: Das Bild der traditionellen Familie hat sich gewandelt, die zunehmende Digitalisierung wirkt sich auf den Lebensstil der Menschen aus, die Gesellschaft ist vielfältiger geworden. Das Bedürfnis nach gemeinschaftlichem, selbstbestimmtem, nachhaltigem und integrativem Wohnen ist immens gewachsen“, sagt Hollberg. Was es dazu braucht und wie gleichzeitig die Wünsche des Einzelnen berücksichtigt werden, ist das Thema ihrer Masterthesis.

„Ein grundlegendes Element dieser Wohnform besteht darin, dass bereits in der Planung die Architektur als Teil des öffentlichen Raums mitgedacht wird. Denn nur so sind Begegnungen und Aktivitäten möglich, die durch eine geschlossene Blocktypologie oder in Einfamilienhaussiedlungen keine Chance hätten. Räume müssen als Sozialräume begriffen werden, die von den Bewohnern immer wieder verändert und neu verhandelt werden“, erklärt Hollberg. „Wir brauchen Gemeinschaftsflächen, Schwellen- und Interaktionsräume.“

Die Masterthesis besteht aus zwei Büchern. Das erste ist ein Reisebericht mit 250 Fotos und Illustrationen zu über 100 Projekten, das zweite widmet sich aus soziologischer Perspektive dem Thema der Gemeinschaft als auch deren physischen und unterbewussten Schwellenräumen, welche gemeinschaftliche Aktivitäten erst ermöglichen. Er enthält neben dem städtebaulichen und architektonischen Entwurfsteil auch fünf aus ihrer Sicht inspirierende Projekte von der Reise: in grafisch analysierten Grundrissen mit Schnittstellen und Rückzugsorten sowie Flächen für Treffpunkte.

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Im Modell sind die Meilensteine des Wohnkonzepts sichtbar: private Rückzugsorte, Gemeinschaftsflächen, Schwellen- und Interaktionsräume.

Modell: Katharina Hollberg und Anton Leibham

Wie sich die beiden das Ganze in der Praxis vorstellen, zeigen sie in ihrem Architekturmodell. Als gedankliche „Spielwiese“, so nannte es der Betreuer der Arbeit, Prof. Joachim Schultz-Granberg, diente den Architekten ein 27,4 Hektar großes, ehemaliges Bahngrundstück, das an ein Gründerzeitviertel westlich der Nürnberger Altstadt grenzt. Das Modell zeigt vier exemplarisch bis ins Detail ausgearbeitete Wohnblöcke mit verschiedenen zeitgemäßen, gemeinschaftlichen und integrativen Wohnformen. Die unterschiedlichen Wohnungsgrundrisse demonstrieren, wie eine Verschränkung von Wohnen und Arbeiten möglich ist, sodass große Pendlerströme verhindert werden können und das Viertel weitgehend autofrei bleibt. Kleine Nischen, Innenhöfe, Lauben- und Verbindungsgänge sorgen für ausreichend Licht, Luft und Sonne und bieten der Gemeinschaft genügend Freiraum sich zu entfalten. Die Wohnblöcke sind an den Rändern durchlässig, es gibt Schwellen vom öffentlichen zum teilöffentlichen und gemeinschaftlichen Raum. Neben gemeinschaftlichen Hobbyräumen befinden sich im Entwurf auch diverse Werkstätten, integrative Kindergärten, eine Gemeinschaftsbibliothek und eine Quartierssauna über den Dächern des Viertels.

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In den Entwürfen von Katharina Hollberg und Anton Leibham spiegelt sich ihre eigene Vorstellung von Wohnen wider: privat und individuell, offen und integrativ.

Grafik: Katharina Hollberg und Anton Leibham

„Die Bauweise ist wirtschaftlich und schafft es dennoch, alle gesellschaftlichen Schichten zu berücksichtigen“, betont Leibham. Es gibt rollstuhlgerechte Wohnungen, zweigeschossige Gartenwohnungen und sogenannte Clusterwohnungen, welche sich besonders für ein Mehrgenerationsmodell eignen. Jeder einzelne Block funktioniert wie ein Dorf, in dem sich die Bewohner vernetzen und einander bei der Kinderbetreuung oder Pflege unterstützen können. Wo es kulturell und sozial förderlich erscheint, kann das Private geöffnet werden, wo keine öffentlich relevanten Interessen erkennbar sind, ist es getrennt. Wenn Bewohner den Grad des Austauschs mit der Öffentlichkeit bestimmen können, identifizieren sie sich mehr mit ihrem Wohnort und tragen zur integrativen Stadtentwicklung bei, sind sich Leibham und Hollberg sicher. „In unserem Modell stecken all unsere Inspirationen aus der Reise und den theoretischen Recherchen. Auch wenn die komplexe Masterthesis – einschließlich zahlreicher Nächte – viel Zeit, Disziplin und Nerven gekostet hat, heute wissen wir, dass das Konzept des öffentlichen Wohnens gut ist: für jeden Einzelnen und das Gemeinwohl.“

Zum Thema: Gerade einmal ein Prozent aller Absolventinnen und Absolventen eines Jahrgangs erhält ihn: den Hochschulpreis. Jedes Jahr kürt das Präsidium gemeinsam mit der Gesellschaft der Freunde der FH Münster e. V. (gdf) auf Vorschlag der Fachbereiche und der Zentralen Wissenschaftlichen Einrichtung die besten Abschlussarbeiten. Zu den Preisträgerinnen und Preisträgern des Hochschulpreises 2020 für die besten Arbeiten aus 2019 gehören auch Katharina Hollberg und Anton Leibham vom Fachbereich Architektur. Sie haben zudem den Bernard-Rincklake-Preis erhalten. Eine vollständige Übersicht aller gewürdigten Absolventinnen und Absolventen ist im Jahresbericht 2019 ab Seite 46 abrufbar: fhms.eu/jahresbericht-19.

  Quelle: www.fh-muenster.de


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